Peter Kemper: „The Sound of Rebellion“

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Um dieses Buch richtig einordnen zu können, ist die Kenntnis der beruflichen Vita des Autors nützlich, wenn nicht gar erforderlich. Peter Kemper ist promovierter Geisteswissenschaftler – (habe nun, ach) Philosophie, Soziologie und sogar Germanistik – und war jahrzehntelang beim Hessischen Rundfunk für Kultur zuständig, unter anderem für das Thema Jazz. Ob er selber ein Instrument spielt oder gar in einem Jazz-Ensemble gespielt hat, wird – aus Bescheidenheit? – nicht thematisiert, doch die profunden Kenntnisse der inhaltlichen Wesenszüge des Jazz lassen darauf schließen.

Doch Peter Kemper geht es nicht um eine musikalische Herleitung oder gar Definition dieser Musikgattung, sondern um den gesellschaftspolitischen Hintergrund. Mit zunehmender Lektüre wird auch immer deutlicher, warum Kemper seine Person zurücknimmt, denn die Geschichte des Jazz ist eindeutig schwarz, womit wir in herkömmlicher Sprache die Hautfarbe der meisten anerkannten Jazz-Größen meinen. Da kommen schnell heutige Schlagworte wie „kulturelle Aneignung“ ins Spiel, und im letzten Kapitel wird Kemper dieses Thema auch aufgreifen und eindeutig Stellung beziehen.

Kurz und knapp, aber unmissverständlich zeigt Kemper die Sklaverei in den Südstaaten der USA als „Brutstätte“ des Jazz auf. Die versklavten oder gerade befreiten, aber nicht als gleichwertig betrachteten Afroamerikaner konnten sich ihre Verzweiflung und ihre Lebensangst nur in den Kirchen in Form von Spirituals und Gospels von der Seele singen, deren Grundlage wiederum die afrikanische Musik bildete. Dabei trug diese Musik wesentlich stärkere spirituelle Züge als die europäische Musik, die schon seit dem Barock an ein strenges, in sich geschlossenes harmonisches und thematisches Muster gebunden war. Doch dieser Hinweis ist für Kemper kein Alibi für lange musikwissenschaftliche Ausführungen, sondern soll nur den Unterschied zwischen „weißer“ und „schwarzer“ Musik aufzeigen.

Und so entwickelt er eine chronologischen Reihe von Jazz-Biographien schwarzer Künstler, beginnend mit der 1915 geborenen Sängerin Billie Holiday, die man als erste Jazz-Sängerin bezeichnen kann, ohne dass sie diesen Begriff schon verinnerlicht hätte. Dennoch schuf sie mit ihren spirituell grundierten Songs die Grundlage der Jazz-Entwicklung des 20.Jahrhunderts. Ihre Suchtprobleme und ihre unmittelbare Erfahrung mit Rassismus und Repression lassen sie als paradigmatisch für die soziale Struktur der neuen Musikgattung erscheinen.

Nach Billie Hollidays beispielhaftem Scheitern an der Lage der Afroamerikaner kommt Louis Armstrong ins Bild, der den rebellischen Schwarzen schon damals als bei den Weißen beliebter Opportunist galt. Doch Kemper zeigt, dass auch er sich mit der Aussage von Billie Holliday´s aufrührerischem Song „Strange Fruits“ solidarisierte und die rassistischen Ausschreitungen in aller Deutlichkeit verurteilte. Was aber nicht verhinderte, dass er mit seinen Liedern – „What a wonderful World“ – weiterhin die Realität im Sinne seines weißen Publikums verklärte.

Die Bigband-Leiter wie Duke Ellington und Count Basie verhandelt Kemper eher als Randnotizen, da ihre Musik vollständig durcharrangiert war und den Musikern kaum improvisatorische Eigenschaften zugestand. Der Unterhaltungswert – Tanzmusik! – für ein weißes Publikum stand hier im Vordergrund. Außerdem waren in diesen öffentlich sichtbaren Bigbands vor allem weiße Musiker beschäftigt, da das weiße Publikum bei gesellschaftlichen Veranstaltungen sich nur schwer mit schwarzen Musikern abfinden wollte.

Doch in Jazzclubs vor allem an der Ostküste traten vor allem kleinere Bands auf, und hier spielte nicht der gesellschaftliche Auftritt, sondern die Musik selbst die zentrale Rolle. Und hier waren es vor allem weiße Intellektuelle, die den Jazz als Pendant zur großbürgerlichen europäischen Kunstmusik sahen und schätzten. Dabei spielten vor allem die sich unbürgerlich und rebellisch gebenden schwarzen Musiker eine wesentliche Rolle. 

Immer mehr schälen sich dann laut Kemper die Bläser, und hier vor allem die Saxophonisten, als zentrale Protagonisten heraus. Das liegt an der vokalen Tradition afroamerikanischer Musik, die die stimmliche Artikulation im Vordergrund steht. Während die europäische Instrumentalmusik nach den Regeln der Harmonielehre und der Kompositionslehre verfuhr und den möglichst reinen, unverfälschten Ton jedes einzelnen Instruments förderte und forderte, feierte die individuelle, emotionale Intonation auf den stimmähnlichen Blasinstrumenten im Jazz ihre Renaissance. Das kam vor allem den schwarzen Musikern zugute, die damit ihre unterprivilegierte Lebenssituation zum Ausdruck bringen und – ja: besingen konnten. Das Saxophon bot sich da mit seinem breiten Ausdrucksspektrum geradezu an, da es erlaubte, alle Emotionen von Verzweiflung bis Wut ungefiltert zum Ausdruck zu bringen.

Kemper lässt dann die einzelnen Protagonisten dieser Gattung Revue passieren. Neben Charley Parker und Art Blakey ist da Charles Mingus, ein auch im eigenen, schwarzen Sozialgefüge eigenständiger und querköpfiger Musiker, oder der Trompeter Miles Davis, wohl einer der berühmtesten Jazz-Musiker des 20. Jahrhunderts. 

Kemper ist auch weit davon entfernt, die schwarzen Jazz-Musiker im Sinne eines Opfers zu verklären und weichzuzeichnen. Bei aller Repression und rassistischen Diskriminierung gab es auch hier charakterlich schwierige Typen wie etwa Miles Davis, der als Boxfan selbst auch gewalttätige Züge – vor allem gegenüber Frauen – und ein arrogantes bis selbstherrliches Auftreten zeigte. Dass das seinem musikalischen Können keinen Abbruch tat, versteht sich von selbst.

Kemper schildert die unterschiedlichen Charaktere durchaus realistisch, jedoch ohne jeglichen denunziatorischen Ton. Gerade den erfolgreichsten Musikern war der Erfolg nicht in die Wiege gelegt worden, sondern musste gegen die rassistische Missachtung der Gesellschaft durchgesetzt werden. Das erforderte nicht nur Talent, sondern auch harte Arbeit und hohe Motivation, die wiederum durch die gesellschaftliche Missachtung gesteigert wurde.

Doch neben den Rebellen, die im späteren „Free Jazz“ jegliche Bindung an Metrik und Harmonik zugunsten eines unverstellten Ausdrucks aufgaben, gab es auch die Spiritualisten wie John Coltrane oder Albert Ayler, deren freie Improvisationen von religiöser Beseelung geprägt waren und keinen vordergründigen Protest gegen sozialökonomische Verhältnisse zum Ausdruck brachten. Oder ein Ornette Coleman, der die afroamerikanische Musiktradition im Jazz vorantreiben und fest verankern wollte. Mit ihm versuchten (und versuchen) viele schwarze Musiker, den Jazz „an sich“ als originär authentische afrikanische Musik zu definieren, bis hin zur Forderung, dass nur Schwarze diese Musik spielen dürften.

Die spirituelle Seite dieser Musik steigerte sich dann noch bei Sun Ra, der in den Siebzigern mit seiner Musik einen mythischen, afroamerikanischen HIntergrund etablierte und in seiner fast schon sakral-jenseitig anmutenden Musik zum Ausdruck brachte. Es lässt sich trefflich darüber streiten, was von dieser Musik noch „Jazz“ ist,  aber dafür müsst erst einmal eine wissenschaftlich eng definierte Definition dieser Gattung vorliegen. Da dies, im Gegensatz etwa zur europäischen Kunstmusik,(noch) nicht der Fall ist, liegt es nahe, dass Kemper auch den Hip-Hop noch als genuinen Teil der schwarzen Jazz-Musik in seine Ausführungen mit aufnimmt, weil auch hier der unverstellte, nicht auskomponierte musikalische Ausdruck im Vordergrund steht.

Eine weitere zentrale Rolle nimmt dann auch noch der Saxophonist, Arrangeur und Bandleader Archie Shepp ein, neben seiner musikalischen Tätigkeit auch gesellschaftspolitisch Position bezogen hat. So verarbeitete er in seiner Musik den Gefängnisaufstand von Attica im Jahre 1971 auf geradezu demonstrative Weise in seinem Album „Attica Blues“ und hat sich noch bis in die jüngsten Tage öffentlich zur Lage der schwarzen Musik undichter Träger zu Wort gemeldet.

Peter Kemper hat mit diesem Buch eine eindrucksvolle „Hommage“ an die Rolle der Schwarzen im Jazz verfasst, die nicht nur die herausragende Stellung der Afroamerikaner im Jazz des 20. Jahrhunderts verdeutlicht, sondern auch die ganz persönliche Liebe – und profunden Kenntnisse – des Autors zu dieser Musikgattung zum Ausdruck bringt.

Für aktive wie passive Liebhaber der Jazz-Musik ist dieses Buch eine wahre Fundgrube an biographischen Details und sozio-ökonomischen Hintergründen, doch auch Freunde der europäischen E-Musik sei dieses Buch zur Erweiterung des musikalischen Horizonts empfahlen.

Das Buch ist im Reclam-Verlag erschienen, umfasst 752 Seiten und kostet 32,99 Euro.

Frank Raudszus

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